Von Sabine Herrle
Im Jahr 1922 erwirbt der Lörracher Textilkaufmann Moritz Weil-Lion das Haus hinter dem Colombipark als Wohn- und Geschäftshaus. Er verkauft Herrenkonfektion, „aus eigenen, sehr guten Stoffen hergestellt“, wie es im Dezember 1933 noch in der Freiburger Zeitung zu lesen ist. Denn bereits seit April 1933 finden in Freiburg die ersten Boykottaktionen statt. Mit den Nürnberger Gesetzen werden jüdische Deutsche dann ab 1935 ganz offiziell zu Bürgern zweiter Klasse. Ab Oktober 1936 dürfen jüdische Kinder aus Freiburg und Umgebung zudem nur noch die jüdische Zwangsschule im Keller der Lessingschule besuchen. Tochter Lilo Weil verlässt bereits vorher, im März 1936, nach der 10. Klasse die Hindenburgschule (das heutige Goethe-Gymnasium am Holzmarkt).
Einen Monat danach fährt die 17-Jährige mit dem Zug alleine nach London. Ihren Abschied dokumentiert sie in einem Taschenkalender am 29. April: „Abends 8:18 Abfahrt [...] Abschiedstränen nicht verbeißen können. Pappa kein Abschiedskuß geben können. [...]“. In London kommt sie bei Bekannten unter. „Heimweh. Im Bett geweint“ , lautet ihr Eintrag für die erste Nacht. Sie macht eine Ausbildung zur Sekretärin und findet anschließend eine Stelle. Nebenher kümmert sich Lilo um Visa für ihre Eltern Moritz und Karolina Weil-Lion und um eine gemeinsameWohnung.
In der Zwischenzeit, im August 1936, heiratet Lilos Schwester Erna Max Eisenmann. Zu diesem Anlass kommt Lilo aus London zu Besuch. Da Juden zu diesem Zeitpunkt nicht mehr öffentlich heiraten dürfen, findet dieHochzeit im Hof der Colombistraße 11 statt. Im Februar 1937 schickt Moritz Weil-Lion seiner Tochter Lilo das in den Tagen der Hochzeit entstandene Familienfoto als Postkarte nach London.
Anfang 1937 setzt in Freiburg die systematische, staatlich gelenkte „Entjudung der Wirtschaft“ ein. Oberregierungsrat Johann Stöckinger verfügt, dass jüdische Unternehmer ihre Geschäfte nicht mehr frei verkaufen dürfen. Vom Käufer dürfen sie nur den Einkaufspreis der Waren verlangen. Ausdrücklich verboten ist, den Wert der Firma zu verlangen, den „Goodwill“. Dieser umfasst mehr als den Wert der Ware, zum Beispiel den Kundenstamm, die Qualifikation der Mitarbeiter oder den Ruf der Firma.
In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 verhaftet die SS 99 jüdische Freiburger. In Viehwaggons werden sie als „Schutzhäftlinge“ in das Konzentrationslager Dachau verschleppt. Auch Moritz Weil-Lion steht auf der Liste; er liegt jedochmit Grippe imBett und bleibt vorerst dort. Die Hausangestellte der Familie Weil-Lion verweist auf eine andere Tür. Dahinter sei auch ein Jude zu finden, deutet sie an. Es ist Max Eisenmann, Ernas Mann. Er wird verhaftet. Im Januar 1939 wird er aus dem Konzentrationslager entlassen. Noch im selben Monat fliehen Erna und Max über die Niederlande in die USA. Max hatte es geschafft, im zweiten Anlauf ein Einreisevisum zu erhalten.
Im Dezember 1938 verkauft Moritz Weil-Lion das Warenlager seines Geschäfts an seinen ehemaligen Angestellten Richard Flick. Letzterer versichert Jahre später, im Jahr 1951, an Eides statt, dass Weil-Lion „noch vor dem 9.11.1938“ auf ihn zugekommen sei. Ab 1939 ist Juden dann jegliche wirtschaftliche Tätigkeit verboten. Richard Flicks Mietvertrag läuft über das Freiburger Hausverwaltungsbüro Erne. Sein Haus verkauft Weil-Lion hingegen ausdrücklich nicht. Doch Richard Flicks Bruder Karl versucht über Jahre hinweg massiv, es zu erwerben.
Ab Anfang 1939 müssen jüdische Deutsche Zwangsnamen annehmen. Bei Frauen ist es „Sara“, bei Männern „Israel“. Im April 1939 wird Moritz Weil-Lion vom Amtsgericht Freiburg auf Grund dieses Gesetzes wegen „fahrlässig verspäteter Anzeige eines nachträglich angenommenen Vornamens“ zu 30 Reichsmark Geldstrafe, ersatzweise zehn Tagen Haft, verurteilt. Damit gilt er als vorbestraft.
Zur gleichen Zeit notiert Lilo, dass die Visa für ihre Eltern ausgestellt seien. Im Mai 1939 verlassen Moritz und Karolina Weil-Lion schließlich Freiburg. Ein Haus für die Familie hat Lilo in London bereits in Aussicht. Vor ihrer Flucht werden die Weil-Lions noch systematisch ausgeplündert. In der Colombistraße lauern Schnäppchenjäger, Außenstände verfallen. Dazu kommen die hohen „Umzugskosten“. Zudem hat das Ehepaar keinen Zugriff mehr auf die Mieteinnahmen der Wohnungen in der Colombistraße. Ein gutes Jahr später, am 6. Juni 1940, verkündet der „Reichsanzeiger“ für Moritz, Karolina und Lilo Weil-Lion die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit. Ihr verbliebenes Vermögen, also das Grundstück mit dem Haus in der Colombistraße, verfällt Ende 1941 ans Reich. Derweil droht dem gesundheitlich stark angeschlagenen Moritz Weil-Lion in England die Internierung als „feindlicher
Ausländer“. Das ärztliche Attest, das ihn davor bewahrt, stammt vomJuli 1940. Erneut ist es Tochter Lilo, die sich darumgekümmert hatte.
Im April 1946, ziemlich genau ein Jahr nach Kriegsende, schreibt Karl Flick einen Brief an Familie Weil-Lion und bittet darum, sich für seinen Bruder Richard, der sich in französischer Kriegsgefangenschaft befindet, „zu verwenden“. Die Ereignisse in den Jahren 1938/1939 charakterisiert er – ohne jegliches Unrechtsbewusstsein – folgendermaßen: „[...] Ich denke oft, dass Sie einesteils zu beneiden waren, Ihre Dispositionen sachlich und zeitlich so vorteilhaft getroffen zu haben. Was haben wir! [...]. Im Dezember 1950 schickt Moritz Weil-Lion seinen Antrag auf Wiedergutmachung und Entschädigung an das Landesamt für Wiedergutmachung des Landes Baden, Stelle Freiburg, und fügt hinzu: „[...] Ich bin fast 75 Jahre alt und lebe seit fast 12 Jahren von Unterstützung von meinen Kindern, die mir aber nicht ausreichend zum Leben geben können und habe von Freunden private Darlehen aufgenommen, die ich wenn es möglich wäre sobald wiemöglich zurückzahlen möchte. [...] Ich wäre Ihnen zu Dank verpflichtet wenn Sie mir nach Prüfung der eingesandten Unterlagen einen Teilbetrag zur Verfügung stellen würden. [...]“ (Staatsarchiv Freiburg, F 196/1 2802, Moritz Weil-Lion am 29.12.1950).
Das Grundstück in der Colombistraße erhält er recht zügig zurück. Er verkauft es weiter an Joseph Stock, der es als Parkplatz für das Hotel „Minerva“ nutzt. Das Landesamt für Wiedergutmachung spricht ihm zudem eine geringe Wiedergutmachung zu. Ab 1952 erhalten er und seine Frau eine Rente. Dasselbe Amt hält ausdrücklich fest, dass nicht davon auszugehen sei, dass Weil-Lion schon vor dem 9. November 1938 Geschäftseinbußen hatte. Zudem, schreibt es, sei der Preis, den das Warenlager erbrachte, angemessen gewesen – schließlich sei es ja noch vor der Reichspogromnacht verkauftworden. 1958 entscheidet das Landesamt für Wiedergutmachung, dass Moritz Weil-Lion keinen Anspruch auf den sogenannten Goodwill habe. Die Vorstrafe wegen Nicht-Führens des Zwangsnamens „Israel“ wird immerhin gestrichen.
Moritz Weil-Lion stirbt im März 1966, kurz nach seiner Frau Karolina, in einem jüdischen Altenheim im schweizerischen Riehen. Die Gräber der beiden befinden sich auf dem jüdischen Friedhof in Lörrach, der Vaterstadt von Moritz Weil-Lion.